Joe wachte am nächsten morgen schon gegen 5 auf. Er war immer noch in Nachbarins Wohnung, sie schlief in ihrem Bett tief und fest neben ihm. Er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, was gestern Abend nach dem Cocktailgetränk geschehen war, vermutlich waren die beiden einfach eingeschlafen. Joe stand auf, nahm eine Dusche in der fremden Wohnung und verließ sie, um nach unten zu gehen. Nun war Lockdown, 3 Wochen keine Cafes, Restaurants, Theater, Opern, Bars und so weiter. Als Joe seine Wohnungstür erreichte, fiel ihm ein, dass er sich doch ausgesperrt hatte. Auch den Schlüsseldienst konnte er nicht rufen, da diese Dienstleister ebenfalls hatten schließen müssen. Er konnte also seine Tür eintreten – oder in bereits eingetretene Wohnung seines Nachbars betreten. Er entschied sich für zweiteres.
Diese Wohnung war, wie schon am Vortag festgestellt, riesig, aber auch leer. Als Joe alle Zimmer erkundet hatte, entdeckte er im Wohnzimmer einen Vorsprung in der Wand: Es musste eine verborgene Tür sein. Sie ließ sich schließlich mit leichtem Druck nach innen öffnen. Joe trat in einen bunten, voll ausgestatteten Raum von etwas 30 m2. Es gab hier alles, das es in einer kleinen Wohnung geben sollte: Ein kleines Bett, eine Couch, einen Fernseher, eine Heizung, einen kleinen Herd, eine Wanne, und all das in sehr kostspieliger Ausführung. Warum sich diese Wohnung verborgen hinter leeren Zimmern befand, wusste Joe nicht. Jedenfalls wirkte auch dieses Zimmer unbewohnt, alles war aufgeräumt, aber von einer dünnen Staubschicht bedeckt. Nach draußen gab es ein kleines Fenster, das geschlossen war. Joe entdeckte auf einem Tisch einen Schlüssel, der wohl in das kleine Loch passen musste, das er beim Aufdrücken der Tür bemerkt hatte: So war es, die „Wohnung in der Wohnung“ ließ sich mit diesem Schlüssel zu- und aufsperren.
Zufrieden betrachtete er sein neues, wohliges Heim, durchstöberte Wandschränke, die randvoll mit Essensvorräten waren, sperrte schließlich ab und ließ sich ein Bad in der Wanne ein, obwohl er bereits geduscht hatte. Er stellte den Fernseher vor die Wanne und schaute einen alten Filmklassiker, der auf einem der Sender zu sehen war, während er in der heißen Wanne saß. Nach ca. einer Stunde, in der er sich völlig entspannen konnte, hörte er von draußen Schreie und Lärm: Er verließ die Wanne, zog sich an und öffnete das kleine Fenster, das zur Straße führte. Eine Gruppe von Idioten, ca. 50 an der Zahl, zog durch die Straßen und skandierte „Nieder mit der Diktatur!“, „Wir lassen uns nicht einsperren!“, „Schlimmer als KZ!“ und „Wir sind die neuen Juden!“. Joe rollte müde die Augen und beobachtete das dämliche Treiben mit sarkastischem Lächeln. Als die Idiotengruppe direkt unter seinem neuen Fenster durchging, nahm Joe einen Kübel Badewasser und kippte ihn hinaus. Das lauwarme Wasser klatschte auf 3 der Idioten, die nach oben blickten und riefen „Nazischwein! Nazischwein!!“. Joe lachte amüsiert und winkte nach unten. Der Trottelzug hielt nun an und schien, eine Kundgebung abhalten zu wollen, unweit von Joes Stehplatz. Der Anführer, ein Mann um die 40, der sich einen gelben Stern auf den Arm geklebt hatte, begann zu krächzen: „Liebe Freunde, wir werden belogen! Es gibt keine Gefahr, man will uns unterdrücken und das dumme Volk lässt sich das gefallen! Doch nicht wir – denn wir sind die Übermenschen, die alles durchschauen: Es tobt ein Kampf, bei dem unsere Führer sich gegen die globale Politelite und das vereinte Judentum wehren! Wir sollen getötet werden, wir, das Volk, soll ausgerottet werden! Doch Achtung, es ist alles eine Lüge! Die Eliten sind wie Hitler und Stalin! Unsere Wohnungen sind die modernen KZs, wir werden eingesperrt, bis wir zugrunde gehen!“ Im nächsten Moment trat Herr Scheinberg aus der Tür seine Wohngebäudes, ein Herr um die 85, äußerst rüstig für sein Alter – und ein KZ-Überlebender. Er schaute sich das Idioten-Schauspiel eine Weile mit verschränkten Armen an, näherte sich dann dem Anführer, der weiter irgendeinen Schwachsinn krähte, erhob seinen Gehstock und drosch damit mehrfach auf den Deppen ein. Joe amüsierte sich köstlich, als der Idioten-Anführer nach hinten kippte, am Boden aufschlug und irritiert um sich blickte. Die Meute schrie auf, näherte sich dem alten Herrn und schubste ihn, während sie schrie „Nazi!“ und „Hitler!“.
Der alte Mann blickte wütend um sich, hielt die Meute mit seinem Stock auf Distanz und flüchtete im letzten Moment zurück in sein Wohnhaus. Die Meute bewegte sich in dieselbe Richtung, einer entzündete ein Fackel und machte Anstalten, das Haus, in dem neben Scheinberg noch rund 20 andere Parteien lebten, anzünden zu wollen. „Räuchert es aus, das zionistische Nazipack!“ rief der Anführer von hinten, der sich inzwischen wieder aufgerappelt hatte. Einige Deppen nahmen Steine und warfen sie Richtung Haus. Im zweiten Stock öffnete sich ein Fenster, aus dem Scheinberg herausblickte. In der Hand hielt er eine großen Kanister mit Benzin, den er auf die direkt unter seinem Fenster sich versammelnde Meute kippte. Er benetzte damit rund 15 und erwischte auch jenen mit der lodernden Fackel. Ein Feuer entzündete sich, breitete sich auf rund die Hälfte der Gruppe aus, die schreiend auseinanderstob. Scheinberg lachte, während das wirre Gebrabbel der Gruppe hinter Schreien und Flammen verschwand. Man hörte nur noch Wortfetzen aus dem rötlich lodernden Knäuel wie etwa „Genozid!“ oder „Judenmörder“. Einige konnten sich vor dem Feuer flüchten, anderen es durch Wälzen auf dem Boden erlöschen, rund 10 von ihnen brannten lichterloh wie ein Christbaum.
Joe konnte den Irrsinn nicht weiter betrachten, schloss das Fenster zur Straße und blickte in den leicht beschlagenen Spiegel: Ein verstörtes Gesicht starrte zurück, er wusste nicht, was er machen sollte. Er verstand Scheinbergs Wut und wusste, dass die Meute eine Gruppe verwirrter und verirrter Seelen war, denen nicht zu helfen war, dennoch tat er sich schwer, das eben Gesehene zu verstehen oder einzuordnen. Er öffnete das Fenster wieder und sah, dass inzwischen die Polizei eingetroffen war. Sie nahm einige Idioten fest und versuchte, andere mit Schaumwerfern zu löschen. 5 von ihnen blieben mit offensichtlichen Brandspuren zurück, einer davon wurde in einen Krankenwagen gepackt, der inzwischen ebenfalls angekommen war. Die Polizei sprach auch mit Scheinberg, der inzwischen wieder nach unten gekommen war, ließ ihn nach 15 Minuten aber gehen.
Da klopfte es an der Neuwohnungstür: Joe nahm den Schlüssel und sperrte auf. Juliette, völlig nackt, mit nassen Haaren, trat ein und warf sich auf Joes Bett, auf dem sie sich lustvoll räkelte und Joe wortlos bedeutete, er möge zu ihr kommen.