Archiv der Kategorie: „Versuch“ – a short story

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Das Knackgeräusch von Joes Nase hörte sich an wie das Öffnen einer Dose, und ebenso wie dabei spritzte Flüssigkeit heraus. Die war allerdings nicht Cola, sondern Blut. Joes Blut vermengte sich mit Juliettes, das bereits den Boden bedeckte. Er schien keine Schmerzen zu verspüren. Als er sich gesammelt hatte, ging er nach draußen, warf die Tür hinter sich zu und stapfte hinunter zu seiner Wohnung. Er verschloss die Tür hinter sich und legte sich ins Bett, dessen weißer Bezug sich alsdann rot färbte. Joe begann zu husten, danach zu heulen: Tränen flossen über sein Gesicht, er schluchzte laut und warf seinen Polster gegen die Wand. So ging das gute 20 Minuten, in denen Joe seinen Gefühlen freien Lauf ließ. Er wollte zu Juliette, wollte gleichzeitig alleine sein, seltsame, wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf, dazu Misanthropie, Hass – und Müdigkeit, die sich vor allem auf die verlängerte Ausgangssperre bezog.

Joe wusste nicht, was er machen sollte. Er überlegte fiebrig nach einem Ausweg, der die Lage erträglicher machen konnte. Meist versuchte er, Herausforderungen mit der ratio zu lösen, gedanklich, und störende Gefühle dabei außer Acht zu lassen. Störend. Gut, doch damit kam er jetzt nicht weiter. Wie fühlte er sich? Einsam. Wütend. Ohnmächtig. Lustlos. Er atmete mehrmals tief ein und aus und erhob sich dann aus dem Bett. Er wusste nicht, wie spät es war, es war ihm auch egal. Er bestellte bei seiner Stammpizzeria 2 Riesenpizzen, dazu Bier. Als nach bereits 15 Minuten die Lieferung eingetroffen war, aß er in Ruhe und verdrückte beide Pizzen auf einmal. Nachdem er das Bier getrunken hatte ging er ins Bad, duschte sich und machte sich zurecht, das inzwischen eingetrocknete Blut im Gesicht bröckelte in kleinen, schwarzen Stückchen ins Waschbecken. Joe blickte in den Spiegel: Er versuchte, sich dabei nicht zu hassen.

Danach zog er sich an und verließ die Wohnung gen oben. Als er bei Juliette klingelte, dauerte es keine 10 Sekunden bis sie öffnete. Sie fiel ihm in die Arme, schmiegte sich an seinen Körper, seufzte und flüsterte heiser, aber lustvoll: „Das war genug. Wir haben alles. Spiele, nur Spiele, an sich egal. Aber lass uns uns sein. Geh nicht mehr weg.“

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Zwei Wochen später. Der Tod der Mary hatte Joes und Nachbarins sich anbahnende Beziehung zunehmend belastet. Nach dem ersten Schock verkroch sich Juliette für 3 Tage in ihrer Wohnung und schickte Joe nach oben. Er wechselte hin- und her zwischen seiner eigenen Wohnung, der Wohnungswohnung nebenan und dem Zelt, das er nun wieder in einem anderen, großen Zimmer aufgestellt hatte. Er begann, wieder zu lesen, schaute abends alte Filme im Fernseher, aß regelmäßig und betrank sich an 2 Abenden. Ihn selbst schien die Situation wenig zu belasten, nach einem halben Tag der Trauer hatte er damit abgehakt. Die Polizei kam einmal vorbei und fragte Hausbewohner nach dem Hergang. Joe und Juliette wurden auch gefragt, sparten einige Details des gemeinsamen Abends aus, berichteten aber von dem vorausgehenden und nicht erfolgreichen Suizidversuch der debilen Dame. Die beiden Polizistinnen teilten mit, dass die Dame wohl „amtsbekannt“ gewesen war und immer wieder für Aufregung sorgte, zudem in psychiatrischer Behandlung gewesen sei, die sie vorzeitig abgebrochen hatte. Für Joe war damit die Angelegenheit endgültig erledigt.

Juliette kam nach ihren 3 Trauertagen zu Joe herunter, sie quatschen belangloses Zeug und sie schlief eine Nacht bei ihm, bevor sie wieder nach oben verschwand. Den Rest der zwei Wochen hörte und sah Joe nichts von ihr.

Schließlich rang sich Joe dazu durch, oben vorbeizuschauen. Die Tür war verschlossen. Als er klingelte, öffnete ihm Juliette in Jogginganzug und Decke gewickelt. „Wurde auch Zeit“ sagte sie und bat Joe herein. Der blickte sie fragend an, sparte sich aber einen Kommentar und betrat die Wohnung. Hier schaute es aus wie in einem Saustall: Leere Pizzaschachteln, fast ein dutzend leere Weinflaschen, 3 Vodkaflaschen, mehrere Tüten, eine Packung Zigaretten, ein paar leere Bierdosen verzierten den Wohnungsboden, Staub tat sein übriges. „Was war denn hier los sag mal?“ fragte Joe. Juliette zuckte die Achseln, ging in ihre Küche, zündete sich eine Zigarette an, die sie aus einer Lade fingerte und ließ sich danach auf ihre Couch fallen. „Was ist denn mit dir?“ fragte Joe, sie zuckte abermals die Schultern, meinte nur „Was soll sein? Was willst du denn?“ und rauchte genüsslich weiter. Joe wusste nicht so recht, was er mit dieser seltsamen Szenerie anfangen sollte. Er nahm sich eine Zigarette aus der offenen Lade und zündete sie an. Juliette zog die Fernsehfernbedienung irgendwo aus ihrem Deckengewand und schaltete einen News-Sender ein. Dort wurde eben verkündet, dass die Ausgangssperre um weitere 3 Wochen verlängert wurde.

Joe nahm eine der leeren Flaschen und schmiss sie gegen die Wand. Juliette stand auf, ging zu den Scherben und griff hinein. Eine schnitt in ihre Hand, die blutete, rote Tropfen verteilten sich am Wohnungsboden. Dann ging sie zu Joe, schüttelte die restlichen Scherben von ihrem Arm, wischte sich das Blut in den Jogginganzug, baute sich vor Joe auf und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht.

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Er stand hinter ihr, sie hatten Sex. Joe fühlte sich seltsam dabei, da er sich diese Tage innerlich auf Juliette konzentriert hatte. Nun war hier diese Dame, die offenbar ihrerseits bereits etwas mit Nachbarin gehabt hatte, also sollte sich Joe keine Gedanken darüber machen müssen. Er tat es dennoch. Nach einigen Minuten hörte er auf und ging von ihr weg. Sie blickte sich um und bedeutete ihm, doch weiterzumachen, doch er winkte er. Er ließ sich auf die Couch im Wohnzimmer fallen und schloss die Augen: Durch das Fenster fiel auch hier Licht, das wärmend seinen nackten Körper bedeckte. Er wollte schlafen und träumen, doch Mary ließ nicht locker. „Was ist jetzt, du Freak? Komm schon und bring’s zu Ende!“ Joe öffnete die Augen und grinste zurück. Er zwinkerte ihr zu, sie verstand: Mach’s dir doch selber. Sie ging in die Küche, schnappte sich ein brauchbares Utensil und tat, wie ihr davor augenzwinkernd befohlen. Joe schaute auf der Couch liegend zu und hatte seine helle Freude. Nach nur 3 Minuten war das Schauspiel zu Ende, Mary nahm das nun nasse, nützliche Utensil und legte es in der Küche an seinen angestammten Platz, während sie kurz auflachte. Dann nahm sie ihre Sachen, die am Boden herumlagen, zog sich an, winkte Joe zu, flötete leise „Bye, war nett!“ – und verließ die Nachbarinnenwohnung.

Joe dachte sich nichts dabei und nickte ein.

Rund 15 Minuten später hörte er durch die angelehnte Balkontür einen Schrei, danach einen dumpfen Knall. Danach Stille. Er sprang auf, lief zur Balkontür und schritt hinaus: Unten lag Mary in einer riesigen Blutlache dort, wo gestern noch der Müllcontainer gestanden hatte. Sie bewegte sich nicht und gab keinen Laut von sich. Ein Passant eilte herbei, der das Ganze beobachtet hatte, versuchte sie anzusprechen, schüttelte sie. Der Passant nahm sein Handy, rief offenbar die Rettung und wartete einige Minuten, bis der Blaulichtwagen eintraf. Mary wurde auf eine Bare gelegt, in den Wagen gehievt, der davonbrauste. Er hinterließ den verdutzten Passanten und eine riesige Blutlache, die die eben einsetzenden Schneeflocken magnetisch anzuziehen schien, die auf ihr landeten und in Sekundenschnelle im warmen, roten, glänzenden Blut zerschmolzen.

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Inzwischen war Nachbarin aufgewacht, die irritiert ins Gesicht des weiblichen Gasts blickte, der es sich hier in ihrer Wohnung gemütlich gemacht hatte. „Hab ich in der Gosse aufgelesen“ meinte Joe beiläufig, während die Aufgelesene kicherte und sich ein Stück Pizza nahm. Juliette wirkte wenig erfreut über den unangemeldeten Gast und stand auf, verließ das Wohnzimmer und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück. Sie knallte die Tür zu. Joe lächelte und aß ebenfalls von der Wohnzimmerpizza. Gesättigt legte sich sein Gast schließlich auf die Couch und machte Anstalten, bald einzuschlafen. Joe beobachtete sie dabei, als sie ihre Lieder schloss, ihre Glieder streckte, die teils blau schimmerten, und zu schnarchen begann. Dann ging er Richtung Schlafzimmer und öffnete dir Tür: Juliette war ebenfalls eingeschlafen und lag auf der linken Bettkante. Joe ging zurück ins Wohnzimmer, versuchte, Gast hochzuheben, was ihm gelang, da sie ziemlich zierlich war, und trug sie in Juliettes Gemach, wo er sie auf der anderen Bettkante platzierte. Es wirkte kurz, als würde sie aufwachen, sie machte es sich aber bald in ihrem neuen Bettchen bequem. Da schliefen sie nun beide nebeneinander und Joe wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Er starrte einige Minuten auf die seltsame Szenerie, überlegte, sich dazuzulegen, ging dann aber nach draußen.

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Als Joe am nächsten Morgen erwachte, lag er zwischen Juliette und Gast im Bett der ersten, in jedem Arm eine der beiden. Er wusste nicht mehr, wie er hier gelandet war. Durch das Schlafzimmerfenster drangen Sonnenstrahlen, die auf sein Gesicht fielen, es angenehm wärmten und für einen kurzen Moment Glück durch seinen Körper strömen ließen. Beide Damen schliefen noch. Die drei hatten wohl die ganze Nacht durchgeschlafen, was sonst passiert war, oder nicht, wusste Joe nicht mehr. Er weckte Gast durch leichtes Rütteln auf. Verschlafen blickte sie ihn an, lächelte und gab ihm einen Kuss. Dann erhob sie sich, schüttelte die Decke von sich, sie war darunter unbekleidet, tippelte nach draußen und bedeutete Joe, zu kommen. Der tat das und versuchte, Juliette dabei nicht zu wecken. Draußen schloss er die Tür und blickte seinen Gast fragend an. „Ich heiße Mary by the way, hi. Das war eine Nacht, na?“ Joe zog eine Augenbraue hoch: „Ich weiß nicht“ „Echt? Schade für dich. Deine Freundin und ich haben rumgemacht, mir war gestern alles egal. Ihr schien es Spaß zu machen, ich hab sowas noch nie gemacht. Aber ich dachte mir: Da ich jetzt eigentlich schon tot sein sollte, kann ich auch gleich machen, wonach mir ist. Alles egal, verstehst du? Nullpunkt. Tabula rasa. Leer. Du hast geschlafen, dann bist du aufgewacht und hast zugesehen. Dann bist du raus gegangen und erst nach 2 Stunden wieder gekommen. Wir hatten inzwischen viel Spaß. Geil. Echt hey, wo hast du sie gefunden? Toll. Wir wissen nicht, was du draußen gemacht hast. Dann hast du dich zu uns gelegt und wir sind alle eingeschlafen. Lustig, nicht?“

Joe blickte irritiert um sich und versuchte, sich zu erinnern. Er wusste nur noch, dass er beide ins Bett gebracht hatte, sonst nichts. Mary wirkte nicht so, als würde sie sich das ausdenken. „Ja, OK“ meinte er und setzte sich auf einen Sessel in der Küche. Mary kam zu ihm – immer noch nackt – und setzte sich auf ihn, während sie ihn küsste. Joe ließ es über sich ergehen und wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Er hatte geplant, die Zeit mit Juliette zu verbringen, die verschwunden war und wieder aufgetaucht, während er diverse Dinger fand, bis ihm schließlich eine weitere Frau in den Schoß fiel, an dem sie sich nun rieb. „Was willst du von mir?“ fragte er Mary. „Nichts. Ich bin froh, nicht tot zu sein, alles andere ist mir egal. Mach mit mir, was du willst. Jederzeit. Fick mich. Oder nicht. Wenn nicht, dann fick ich dich. Oder deine Freundin. Alles klar?“

Joe nickte, klar war ihm nichts und er war überfordert. Schließlich stand er auf, ging ins Schlafzimmer und ließ Gast zurück. Juliette wachte auf. „Hey Babe, nette Freundin hast du da, wo hast sie gefunden?“ „Sagte ich dir schon gestern. Da mochtest du sie noch nicht, oder?“ „Stimmt, war gepisst. Ist aber süß, darf gern da bleiben. Vielleicht behalte ich sie, wenn du sie nicht willst.“ „Was ist das mit euch beiden?“ fragte Joe schließlich. „Nichts. Was soll sein? Hab sie gern, bringts voll. Kleines Biest. Bist du eifersüchtig?“ „Nein“ sagte Joe, und ging wieder nach draußen. Mary hatte auf ihn gewartet, stellte sich aufreizend und rücklings vor ihn und sagte „Na komm schon, Feigling“. Joe näherte sich langsam und entkleidete sich schnell.

9

Es war der darauf folgende Morgen: Nach seinem Zelturlaub in der Nachbarswohnung hatte Joe das Ding in die Wohnungswohnung gestellt, sich eine Weile hineingelegt – Urlaub im Zelt in der Wohnungswohnung quasi, umgeben von 3 Schutzschichten vor der Welt da draußen -, um schließlich wieder in seine Wohnung hinüberzugehen. Dort hatte er lange geschlafen, es war bereits 11 Uhr vormittags, als Joe erwachte. Inzwischen fühlte er sich auch wieder ausgenüchtert und machte sich Kaffee. Draußen schneite es in dichten Flocken, am Balkon hatte sich eine bestimmt 30 cm hohe Schneeschicht versammelt.

Joe badete, aß eine Kleinigkeit und verließ seine Wohnung, um nach oben zu gehen. Er läutete an Juliettes Tür, die sich aber nicht öffnete, obwohl Joe Geräusche im Innenraum vernahm. Nach etwa 10 min ging die Tür auf, heraus blickte eine verkatert dreinschauende Nachbarin mit tiefen Augenringen, die ihren Körper mit einer Decke bedeckte. „Na, gut geschlafen?“ fragte Joe, was sie mit einem ironischen Lächeln quittierte. „Was ist gestern passiert?“ fragte Juliette, „Ich weiß es nicht“, antwortete er. Joe trat ein und sah im Wohnzimmer mehrere Weinflaschen am Boden liegen, die allesamt geleert aussahen. „Wer war zu Besuch?“ fragte Joe. „Haha“ sagte sie und ließ sich auf ihre Couch fallen. Joe ging in die Küche, wo er ein Telefon entdeckte, und wählte die Nummer seiner Stammpizzeria, wo er 2 Riesenpizzen bestellte, ohne Nachbarin davor zu fragen, was sie wollte. Die schien ohnehin nicht bei sich zu sein. Joe durchwanderte ihre Wohnung. Er konnte sich nicht mehr erinnern, ob er das schon einmal getan hatte, das meiste kam ihm unbekannt und neu vor, es war auch egal. Nachbarinwohnung hatte einen kleinen Balkon, auf den nur ein Sessel passte, der aber überdacht war. Joe trat hinaus und blickte in die Ferne, wo er nichts sah. Ober ihm öffnete sich plötzlich ein Fenster, er sah einen weiblichen Körper, der nach vorne kippte, nach unten plumpste, sich einen Arm ein einem Masten stieß, der einen Stock tiefer nach vorne ragte, pfeilschnell nach unten schoss – und in einem Container landete, der mit Müllsäcken befüllt war. Von unten hörte Joe ein „Scheiße, verfickte!“, dann raschelnde Geräusche, die ankündigten, dass sich bald jemand aus dem Müllsackberg schälen würde: Es war eine junge Frau, die Joe davor noch nie im Wohnhaus gesehen hatte und deren Selbstmordversuch offenbar ein bisschen schief gegangen war. Sie krabbelte am Container hoch, sprang auf die Straße, trat wütend auf das monströse Metallding ein und hielt sich ihren Arm, der schief nach unten hing. Dann ging sie durch die Wohnhaustür nach drinnen und war verschwunden. Joe blickte auf Nachbarin, die nun eingeschlafen war, verließ ihre Wohnung, aber ließ die Tür offenstehen. Er eilte nach unten, wo er im Erdgeschoss suizidäre Mitbewohnerin traf. Ihr Arm hing immer noch schräg nach unten, ihr schien das jedoch nichts auszumachen. „Was hast du gemacht?!“ fraget Joe. „Wollte springen, scheiß Müll, verdammter“ kam zurück, sonst nichts. „Und nun?“ wollte er von ihr wissen. „Kein Plan. Sollte wohl nicht sein. Bin enttäuscht, so sad. Nochmal tu ich mir den Stress nicht an. Wo wohnst du?“ „An mehreren Orten. Derzeit bei einer Nachbarin. Komm doch mit.“

Die beiden stapften die Stufen nach oben, während junge Frau an ihrem Arm herumzupfte. „Ausgehängt“ kommentierte sie, schlug den Arm gegen das Stiegengeländer, der sich daraufhin wieder „einzuhängen“ schien, da er eine halbwegs normale Position einnahm. Er war aber geschwollen und blau an einigen Stellen. „Geht wieder“ sagte sie, als die beiden durch die offene Wohnungstür von Nachbarin traten. Die schlief immer noch, Joe gab seiner Begleitung ein Glas und suchte nach Alkohol, den er ihr schließlich einschenkte. Sie trank und entspannte sich, da läutete es an der Tür. Pizzamann war da mit den 2 Riesenpizzen, die Joe bestellt hatte, mit sich nach drinnen nahm und am Wohnzimmertisch platzierte. Es roch herrlich.

8

Joe verließ die Nachbarswohnung und stapfte die Stufen hinunter, bis er das Erdgeschoss erreichte, von dem aus eine Tür in den Keller führte. Das Stiegenhaus war dunkel, es gab keinen Lichtschalter und es roch modrig. Er nahm zirka 50 Stufen, bis er eine Etage erreichte, von deren Decke eine kleine Glühbirne hängte, die den Kellervorraum in schummriges Licht tauchte. Von dem Vorraum führten mehrere Gänge weg, die jeweils nummeriert waren. Joe suchte nach dem richtigen Gang, der zum Abteil führen sollte, das auf dem Schlüssel vermerkt war. Danach machte er einige Schritte, bis er das Abteil erreichte, das nur wenige Meter entfernt war. Der Schlüssel sperrte und vor Joe öffnete sich ein rund 15 m2 großer Raum. Dieser war durch eine Neonlampe beleuchtet, die sich offenbar durch das Entsperren der Tür eingeschaltete hatte. Darin befanden sich mehrere Kisten, die aufeinandergestapelt in einer Ecke standen, ein Anhänger, der wohl an ein Auto angehängt werden konnte und einer Zelt, das aufgebaut inmitten des Raumes stand. Ansonsten war das Abteil leer.

Joe betrachtete alles einige Minuten und überlegte. Dann machte er kehrt, sperrte wieder ab und stapfte die Stufen nach oben. Er hatte Schmerzen im Nacken, ein übles Ziehen, das sich anfühlte, als würde eine schwere Last auf seinen Schultern liegen. Er machte einen Abstecher vor die Haustür, schnappte Luft, und ging wieder hinein, dann nach oben zu seiner Wohnung, die sich nun mit dem Schlüssel aufsperren ließ.

**

Als Joe erwachte, war es bereits dunkel. Er musst mehrere Stunden verschlafen haben. Als er sich umsah, bemerkte er, dass er am Boden seiner Wohnung lag. Er konnte sich nicht erinnern, wie er hier gelandet war. Auf dem Küchentisch fand er eine halb leere Vodkaflasche, daneben ein leeres Glas, am Boden mehrere Zigarettenstummel. Eines seiner Balkonfenster war eingeschlagen, eisiger Wind pfiff herein, verziert mit einigen Schneeflocken: Es hatte zu schneien begonnen. Joe holte Plastikfolie aus der Küche und verklebte das etwas 30 cm große Loch im Fenster damit, drehte die Heizung auf die höchste Stufe und ließ sich schließlich ein Bad ein. Von Nachbarin gab es keine Zeichen, möglich, dass sie die letzten Stunden nach unten gekommen war, doch Joe hatte die Wohnungstür offenbar verschlossen, sie hätte also nicht eintreten können, auch wenn sie gewollt hätte. Und ein Klingeln oder Klopfen hatte Joe bestimmt nicht gehört in seinem Zustand. Das Bad war heiß und wohltuend, Joe versank in Gedanken. Er nickte für rund 20 Minuten ein, danach war das Wasser kalt, Joe ließ neues Wasser in die Wanne und blieb weitere 30 Minuten liegen. Er dachte über sein Leben nach, darüber, dass alles keinen Sinn zu machen schien und dass er jegliche Lust an allem verloren hatte. Er erinnerte sich an Scheinbergs irre Aktion, die in ihm nun eine seltsame Freude auslöste. Danach versank er wieder in einem undefinierbaren Zustands der Teilnahmslosigkeit, der rund 10 Minuten andauerte, bis er merkte, dass das Wasser erneut kalt war. Joe wollte aufstehen und sich abtrocknen, wusste aber nicht, wozu.

Er wusste auch nicht, was er tun sollte, wenn er denn dann aufgestanden sein würde. Trotzdem erhob er sich schließlich aus der Wanne, trocknete sich ab und ging in den Wohnraum. Er zwang sich dazu, die Wohnung zu verlassen, ging erneut in den Keller, baute das Zelt, das inmitten des Raumes stand, ab und nahm es mit nach oben. In der Nachbarswohnung suchte er sich ein großes, leeres Zimmer, wo er das Zelt wieder aufbaute, danach holte er sich Essen aus dem Schrank mit den Vorräten aus der Wohnungswohnung, das er im Zelt sitzend verzehrte. Auch holte er einen kleine Stehlampe, die batteriebetrieben war, von dort und leuchtete damit das Zelt aus.

7

Joe legte sich neben Nachbarin, die ihn lächelnd anblickte. Er starrte ausdruckslos zurück, stand auf und verließ seine Wohnungswohnung. Juliette lief ihm nach und fragte ihn, was denn los sei, Joe wollte nicht antworten und schüttelte den Kopf. Sie dreht sich um und ging wieder nach oben – immer noch nackt – während ihr auf den Stufen offenbar Herr Verra begegnete, ein älterer Mann von etwa 65 Jahren, der seit dem frühen Tod seiner Frau alleine eine Etage höher lebte. „Aber Hallo!“ hörte Joe durch die eingetretene Wohnungstür seines Nachbarn, dann trippelnde Schritte, mit denen Juliette offenbar nach oben in ihre Wohnung floh. Joe holte eine Kanne aus seiner Wohnungswohnung, ging in eines der leeren Zimmer davor und drosch damit auf den alten Holzboden ein, bis sich Splitter daraus lösten, die sich wie Schneeflocken rundum verteilten. Er ging an eines der Fenster, das ebenfalls zum Nachbarshaus führte, und blickte hinaus: Nichts, keine Spuren eines Kampfes, keine Reste des Feuers, keine Menschen, die auf das verwiesen, das er zuvor beobachtet hatte. Er fragte sich, ob er den Verstand verloren und Geister gesehen hatte. Verängstigt lief er die Treppen hinunter, vorbei an Verra, wissend, dass er ohne triftigen Grund das Haus nicht verlassen sollte, stürmte auf die andere Straßenseite und zu Scheinbergs Wohnhaus und erblickte zu seiner Erleichterung einen Polizisten, der sich im Hauseingang mit einer Bewohnerin unterhielt. Joe tat so, als würde er unbeteiligt vorbeispazieren und nur zum Luft schnappen draußen sein, schnappte dabei indes aber einige Gesprächsfetzen auf: „Sie wollten unser Haus anzünden….verrücktes Pack….der Herr hat uns gerettet….Notwehr….“

Joe schlenderte vorbei, machte einen Block weiter kehrt und ging über eine Parallelstraße zurück zu seinem Wohnhaus. Er stapfte die Stufen empor und trat schließlich, als er vor seiner eigenen Wohnungstür stand, mit dem Fuß dagegen. Zu seiner Überraschung gab sie nach, das Schloss nahm wohl Schaden, doch die Tür blieb völlig intakt. Von innen konnte er die Tür sogar zuziehen, erleichtert begab er sich in sein Wohnzimmer, wo er sich trotz der frühen Stunde (es war etwa Mittag) ein Glas Vodka gönnte. Er setzte sich vor den Fernseher und drehte einen News-Sender auf, der von den Vorgängen in der Nachbarschaft berichtete: Inzwischen war offenbar ein ziemlich idiotischer Reporter dort gelandet, der mit sich überschlagender Stimme von einem „Bürgerkrieg zwischen Befürwortern und Gegnern der Maßnahmen“ berichtete. Ein Gutteil der Protestierenden war inzwischen offenbar in Gewahrsam genommen worden, der „ältere Herr S.“, der sich durch die Meute persönlich angegriffen gefühlt hatte, war freigelassen worden, nachdem er erklären konnte, dass er aus Notwehr gehandelt hatte. Joe wollte von all dem nichts mehr wissen und drehte den Fernseher ab. Er war verwirrt, erregt, entsetzt, und zitterte am ganzen Körper: Dieses Gefühl, das er am Vortag gehabt hatte, kam zurück. Er hasste dieses Gefühl, es war hässlich, er fühlte sich hässlich und hasste sich. Er ging in die Küche, holte mehrere Gläser, die er kürzlich erst gekauft hatte, ging auf den Balkon und warf sie über das Geländer. Sie zerschellten am Boden, doch niemand nahm davon Notiz.

Joe zündete sich zugleich 2 Zigaretten an, und wartete, ob Nachbarin wieder bei ihm auftauchen würde, so war es schließlich vereinbart gewesen. Er wartete eine Stunde, in der er nichts tat, außer auf die Wand gegenüber des Balkons zu starren, die in seiner Wohnung, während er im Türrahmen stand, der nach draußen führte. Er fror, doch er fand die Kälte belebend, da er sonst nichts fühlte. Es war also nun gegen ein Uhr, Joe wusste nicht, was er tun sollte. Drei Wochen festgesetzt, die einzige Hoffnung, der einzige Lichtblick eine Frau, die er nicht kannte, und eine Wohnung in einer Wohnung, die ihm nicht gehörte. Drängende Langeweile überkam ihn, dazu eine Leere, die alles auszufüllen schien. Zusätzlich eine schräge Verwirrung, die er zwar kannte, zu gut kannte, die er nicht entwirren konnte. Irrsinn, Wahn – so fühlte sich Joes Inneres an, doch nach außen, da war er völlig ruhig, wirkte geradezu entspannt. Joe ging ins Badezimmer, trank einige Schlucke aus dem Wasserhahn, benetzte sein Gesicht mit heißem Wasser, das brannte, schlug mit der Faust gegen den Spiegel, der Sprünge bekam, die auf Joes Hand einige Risse hinterließen, aus denen Blut sprang. Joe schmierte das Blut auf die Wand, schlug mit der anderen Hand gegen die Spiegel, der nun erstmals Splitter verlor, die in zartem Klirren und Knistern ins Waschbecken tröpfelten. Er starrte in den Spiegel, er erkannte sich wieder, doch mochte sich nicht. Schließlich verließ er sein Bad, schlug die Tür in die Angeln und blieb inmitten seines Wohnzimmers stehen: Leere, Depression, Trauer, Wut, Hass – und dazu das, was er heute auf der Straße beobachtet hatte. Er suchte nach einer Flucht, einem Ausweg, doch fand keine, denn es gab sie nicht.

Joe steckte seinen Wohnungsschlüssel in die Hosentasche und verließ sein Heim. Er begab sich in die leeren Räume seines Nachbarn und suchte noch einmal alle Zimmer ab, nach irgendetwas, das ihn aus seiner Stimmung reißen könnte. Im letzten, hintersten Zimmer, das gerade 1 mal 1 Meter groß zu sein schien und wohl als Abstellkammer genutzt worden war, fand er am Boden liegend einen Schlüsselbund. Joe hob ihn auf und zählte 5 Schlüssel. Einer davon war beschriftet: „Keller, Abteil 245“. Er wusste, dass es ihm Wohnhaus einen Keller gab, der von den Mietern genutzt werden konnte, was er bisher nicht getan hatte, da all seine Sachen in seiner Wohnung Platz fanden.

6

Joe wachte am nächsten morgen schon gegen 5 auf. Er war immer noch in Nachbarins Wohnung, sie schlief in ihrem Bett tief und fest neben ihm. Er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, was gestern Abend nach dem Cocktailgetränk geschehen war, vermutlich waren die beiden einfach eingeschlafen. Joe stand auf, nahm eine Dusche in der fremden Wohnung und verließ sie, um nach unten zu gehen. Nun war Lockdown, 3 Wochen keine Cafes, Restaurants, Theater, Opern, Bars und so weiter. Als Joe seine Wohnungstür erreichte, fiel ihm ein, dass er sich doch ausgesperrt hatte. Auch den Schlüsseldienst konnte er nicht rufen, da diese Dienstleister ebenfalls hatten schließen müssen. Er konnte also seine Tür eintreten – oder in bereits eingetretene Wohnung seines Nachbars betreten. Er entschied sich für zweiteres.

Diese Wohnung war, wie schon am Vortag festgestellt, riesig, aber auch leer. Als Joe alle Zimmer erkundet hatte, entdeckte er im Wohnzimmer einen Vorsprung in der Wand: Es musste eine verborgene Tür sein. Sie ließ sich schließlich mit leichtem Druck nach innen öffnen. Joe trat in einen bunten, voll ausgestatteten Raum von etwas 30 m2. Es gab hier alles, das es in einer kleinen Wohnung geben sollte: Ein kleines Bett, eine Couch, einen Fernseher, eine Heizung, einen kleinen Herd, eine Wanne, und all das in sehr kostspieliger Ausführung. Warum sich diese Wohnung verborgen hinter leeren Zimmern befand, wusste Joe nicht. Jedenfalls wirkte auch dieses Zimmer unbewohnt, alles war aufgeräumt, aber von einer dünnen Staubschicht bedeckt. Nach draußen gab es ein kleines Fenster, das geschlossen war. Joe entdeckte auf einem Tisch einen Schlüssel, der wohl in das kleine Loch passen musste, das er beim Aufdrücken der Tür bemerkt hatte: So war es, die „Wohnung in der Wohnung“ ließ sich mit diesem Schlüssel zu- und aufsperren.

Zufrieden betrachtete er sein neues, wohliges Heim, durchstöberte Wandschränke, die randvoll mit Essensvorräten waren, sperrte schließlich ab und ließ sich ein Bad in der Wanne ein, obwohl er bereits geduscht hatte. Er stellte den Fernseher vor die Wanne und schaute einen alten Filmklassiker, der auf einem der Sender zu sehen war, während er in der heißen Wanne saß. Nach ca. einer Stunde, in der er sich völlig entspannen konnte, hörte er von draußen Schreie und Lärm: Er verließ die Wanne, zog sich an und öffnete das kleine Fenster, das zur Straße führte. Eine Gruppe von Idioten, ca. 50 an der Zahl, zog durch die Straßen und skandierte „Nieder mit der Diktatur!“, „Wir lassen uns nicht einsperren!“, „Schlimmer als KZ!“ und „Wir sind die neuen Juden!“. Joe rollte müde die Augen und beobachtete das dämliche Treiben mit sarkastischem Lächeln. Als die Idiotengruppe direkt unter seinem neuen Fenster durchging, nahm Joe einen Kübel Badewasser und kippte ihn hinaus. Das lauwarme Wasser klatschte auf 3 der Idioten, die nach oben blickten und riefen „Nazischwein! Nazischwein!!“. Joe lachte amüsiert und winkte nach unten. Der Trottelzug hielt nun an und schien, eine Kundgebung abhalten zu wollen, unweit von Joes Stehplatz. Der Anführer, ein Mann um die 40, der sich einen gelben Stern auf den Arm geklebt hatte, begann zu krächzen: „Liebe Freunde, wir werden belogen! Es gibt keine Gefahr, man will uns unterdrücken und das dumme Volk lässt sich das gefallen! Doch nicht wir – denn wir sind die Übermenschen, die alles durchschauen: Es tobt ein Kampf, bei dem unsere Führer sich gegen die globale Politelite und das vereinte Judentum wehren! Wir sollen getötet werden, wir, das Volk, soll ausgerottet werden! Doch Achtung, es ist alles eine Lüge! Die Eliten sind wie Hitler und Stalin! Unsere Wohnungen sind die modernen KZs, wir werden eingesperrt, bis wir zugrunde gehen!“ Im nächsten Moment trat Herr Scheinberg aus der Tür seine Wohngebäudes, ein Herr um die 85, äußerst rüstig für sein Alter – und ein KZ-Überlebender. Er schaute sich das Idioten-Schauspiel eine Weile mit verschränkten Armen an, näherte sich dann dem Anführer, der weiter irgendeinen Schwachsinn krähte, erhob seinen Gehstock und drosch damit mehrfach auf den Deppen ein. Joe amüsierte sich köstlich, als der Idioten-Anführer nach hinten kippte, am Boden aufschlug und irritiert um sich blickte. Die Meute schrie auf, näherte sich dem alten Herrn und schubste ihn, während sie schrie „Nazi!“ und „Hitler!“.

Der alte Mann blickte wütend um sich, hielt die Meute mit seinem Stock auf Distanz und flüchtete im letzten Moment zurück in sein Wohnhaus. Die Meute bewegte sich in dieselbe Richtung, einer entzündete ein Fackel und machte Anstalten, das Haus, in dem neben Scheinberg noch rund 20 andere Parteien lebten, anzünden zu wollen. „Räuchert es aus, das zionistische Nazipack!“ rief der Anführer von hinten, der sich inzwischen wieder aufgerappelt hatte. Einige Deppen nahmen Steine und warfen sie Richtung Haus. Im zweiten Stock öffnete sich ein Fenster, aus dem Scheinberg herausblickte. In der Hand hielt er eine großen Kanister mit Benzin, den er auf die direkt unter seinem Fenster sich versammelnde Meute kippte. Er benetzte damit rund 15 und erwischte auch jenen mit der lodernden Fackel. Ein Feuer entzündete sich, breitete sich auf rund die Hälfte der Gruppe aus, die schreiend auseinanderstob. Scheinberg lachte, während das wirre Gebrabbel der Gruppe hinter Schreien und Flammen verschwand. Man hörte nur noch Wortfetzen aus dem rötlich lodernden Knäuel wie etwa „Genozid!“ oder „Judenmörder“. Einige konnten sich vor dem Feuer flüchten, anderen es durch Wälzen auf dem Boden erlöschen, rund 10 von ihnen brannten lichterloh wie ein Christbaum.

Joe konnte den Irrsinn nicht weiter betrachten, schloss das Fenster zur Straße und blickte in den leicht beschlagenen Spiegel: Ein verstörtes Gesicht starrte zurück, er wusste nicht, was er machen sollte. Er verstand Scheinbergs Wut und wusste, dass die Meute eine Gruppe verwirrter und verirrter Seelen war, denen nicht zu helfen war, dennoch tat er sich schwer, das eben Gesehene zu verstehen oder einzuordnen. Er öffnete das Fenster wieder und sah, dass inzwischen die Polizei eingetroffen war. Sie nahm einige Idioten fest und versuchte, andere mit Schaumwerfern zu löschen. 5 von ihnen blieben mit offensichtlichen Brandspuren zurück, einer davon wurde in einen Krankenwagen gepackt, der inzwischen ebenfalls angekommen war. Die Polizei sprach auch mit Scheinberg, der inzwischen wieder nach unten gekommen war, ließ ihn nach 15 Minuten aber gehen.

Da klopfte es an der Neuwohnungstür: Joe nahm den Schlüssel und sperrte auf. Juliette, völlig nackt, mit nassen Haaren, trat ein und warf sich auf Joes Bett, auf dem sie sich lustvoll räkelte und Joe wortlos bedeutete, er möge zu ihr kommen.