Archiv der Kategorie: Aufzeichnungen aus dem Loch

XIV

Im nächsten Moment klingelte mein Handy. Ich entfernte mich vom Fenster, durch das von unten rauschend Stimmengewirr drang, und hob ab. Es war Madame. „Es tut mir so leid, dass ich mich erst jetzt melde. Glaub mir, bitte. Mir geht es nicht gut, wirklich, mir wird alles zu viel. Ich muss umziehen, also, mein Vermieter meint, alleine könne ich hier nicht bleiben, und meine Freund, also Ex-Freund, nun, du weißt ja…ich komme nicht zur Ruhe, alles ist mir zu viel, alles wächst mir über den Kopf. Was soll ich machen?! Ich stehe morgens auf und bin wirr im Kopf und irre durch meine Wohnung und versuche mich zu beruhigen, doch es geht nicht, und dann pure Panik, Panikattacken, Angst, es ist mir zu viel….und diese Erinnerungen, es ist die Hölle! Ich schwitze, mir ist heiß, ich kann nicht mehr!!“ Keuchend machte sie endlich einen Punkt. Sie wirkte erregt, überregt, aufgeregt. Ich hatte wenig Lust, mir ihr Geheule anzuhören: Wochenlang kein Wort, nun der Anruf, in Panik, glaubend, mich würde das noch interessieren? „Bin gerade bei meiner Freundin, was kann ich für dich tun?“ sagte ich, und fand diesen Einfall sehr clever. „Ähm, du…bei deiner Freundin?…Ich wusste gar nicht, dass…..also….nun…ähm, ich wollte nur mit einem Freund reden, ich dachte wir sind Freunde?“ „Naja, wir hatten einmal Sex, einige seltsame Begegnungen, und du meldest dich nur dann, wenn es dir passt und erwartest, dass ich für dich da bin. Ich verstehe es, ja, aber es ist mühsam, anstrengend, frustrierend und unfair. Und schau auf die Straßen: Es gibt andere Probleme als deine kleinen Neurosen, mein Herz.“ „Du hast Recht, ich bin unfair, es ist nur, mir fällt alles schwer, und…..“ „Das Leben ist schwer, mein Schatz, unperfekt, mühsam, traurig, schmerzhaft, und wenn du das akzeptierst, ist vieles einfacher. Ich muss auflegen, melde dich, wenn es dir passt, aber versprich mir nichts mehr, das du ohnehin nicht hältst. Liebe Grüße und Tschüss“. Damit legte ich auf, ohne ihre Antwort abzuwarten. Ich fühlte mich mächtig stark, und war stolz auf mich, so konsequent gehandelt zu haben.

Als ich zurück zum Fenster marschierte, hörte ich Schreie draußen: Einige Demonstranten hatten sich wohl in die Haare gekriegt, andere attakierten offenbar unbeteiligte Zuschauer, die am Straßenrand das Treiben beäugten. Ein Aktivist, der eine Fahne mit der Aufschrift „Make peace, not war!“ bei sich trug, stürmte gen Straßenrand, wo eine Gruppe älterer Menschen stand, die allem Anschein nach wenig Freude mit dem Aufruhr hatte, stieß eine rund 60-Jährige auf den Boden, beugte sich über sie und schlug ihr mit der Faust mehrmals ins Gesicht, bevor er die Flagge hob und ihr die Spitze des Fahnenstabs durch die Brust rammte. Die Flagge steckte in ihrem Leib fest, die Zuckungen der Dame wurden weniger und leichter, und während sich der Aktivist stolz schreiend entfernte, wehte die Flagge mit der nun blutbespritzten Aufschrift „Make peace, not war!“ sanft im lauwarmen Wind.

Ende.


„Aufzeichnungen aus dem Loch“ ist eine Kurzgeschichte in 14 Kapiteln, die über die letzten Wochen hier erschienen war. Den gesamten Text kann man HIER nachlesen.

XIII

Nachdem Lady rund 10 Minuten ununterbrochen gequasselt hatte, hob ich meine Hand und bedeutete ihr, auch sprechen zu wollen.

„Warum hast du mich hierher eingeladen? Ich war doch sehr verwundert…“

„Ach, du, kein besonderer Grund. Ich beobachte dich auch seit Monaten, wie du mich beobachtest, und auch manchmal so, von meinem Küchenfenster aus. man sieht mich da nicht. Ich bin einsam, ich darf wieder arbeiten, ja, doch nur jede 2. Woche. Ich hasse meine Arbeitskollegen und suche neue Freunde. Warum nicht, ist doch egal, oder? Willst du Essen gehen, jetzt? Ja?“

Ich war nicht in Stimmung und schüttelte den Kopf. „Schade“, sagte sie „dann gehe ich alleine. Bleibst du da?“ Ich konnte keine klaren Gedanken fassen, bleierne Schwere legte sich über mein Gemüt, ich schaute auf meine Uhr, überlegte kurz und stimmte dann zu. „Ich bin nur 45 Minuten weg, danach lass uns weiterreden, ja? Oder einen Film sehen? Was sagst du?“ Ich stimmte wieder zu, sie verließ ihr Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Ich blieb in meinem Sessel sitzen und blickte aus dem Fenster. Lady huschte einmal an der Schlafzimmertür vorbei, nackt, und rief herein „Keine Sorge, nichts, das du nicht bereits gesehen hast!“, lachte laut auf und verstummte dann. Nach einigen Minuten hatte sie sich fertig gemacht, winkte noch einmal herein, zog ihre Schuhe an und verließ ihre Wohnung, ließ sie alleine. Mit mir in ihr.

Da saß ich nun, in einer fremden Wohnung, ohne erklärbaren oder nachvollziehbaren Grund, ohne Absicht, im Grunde ohne Interesse. Ich machte eine kleine Tour durch ihre Wohnung und legte mich dann auf die Couch vor den Fernsehen. Als ich einschaltete, war eine Nachrichtensprecherin zu hören, deren schrille Stimme sich überschlug: „Die Proteste nehmen immer weiter zu, meine Damen und Herren! Der wütende Mob zieht nun vom Regierungsviertel in die Wohngegenden, in der Hoffnung, neue Unterstützer zu finden! Bleiben sie im Haus, schließen sie sich ihnen nicht an!“ Offenbar hatte es heute Nachmittag eine kleine Kundgebung von Aktivisten gegeben, die gegen die Einschränkungen aufgrund der Virus-Maßnahmen gerichtet war. Ihre genauen Forderung im Detail waren nicht bekannt, der Protest war der Ausdruck gesammelter und kollektiver Wut auf die momentane Situation. Anfangs, so erzählte mir der Fernseher, waren es nur rund 15 Verwirrte gewesen, die vor den Regierungsgebäuden „Ihr seid die Viren, kriecht auf allen Vieren!“ skandierten. Mit der Zeit war die Gruppe aber auf über 500 Menschen angewachsen, auch TV-Teams waren nunmehr vor Ort und filmten das Geschehen, und ein Teil der Gruppe zog weiter Richtung Vorstadt.

Das Team des TV-Senders interviewte einen Aktivisten, dem in dem Fall die Maskenpflicht wohl zugute kam, da sie ihm eine legale Vermummung ermöglichte: „Diese Drecksregierung hat uns unser Leben gestohlen! Eine Viren-Diktatur wurde errichtet, und niemand wehrt sich! Wir erheben uns, wir wehren uns! Wir fordern mehr Geld für alle! Wir wollen mehr, wir wollen alles! Es wird Gewalt geben! Sie werden sich noch wundern!“ Dann schaltete die Reporterin zu einer Kollegin, die eine Aktivistin interviewte: „Wir haben genug von der jahrelangen Unterdrückung des Volkes. Wir verbünden uns jetzt mit anderen Gruppierungen. Die Diskriminierung des Volkes muss ein Ende haben, wir wollen die Machthaber entfernen und selbst für Recht und Ordnung sorgen. Die Revolution ist hier, wer nicht für uns ist, ist gegen uns“. Ich schüttelte ungläubig den Kopf ob der Dummheit dieser lächerlichen Figuren, die glaubten, mit Gewalt ihren persönlichen Befindlichkeiten und Defiziten Ausdruck verleihen zu müssen oder dürfen. Als ich in Gedanken verloren den Fernseher abdrehte und in der Couch versank, hörte ich aus dem Schlafzimmer laute Schreie: Draußen vor dem Fenster zog ein bestimmt über 500 Menschen starker Mob durch die Straßen und skandierte: „Kriecht auf allen Vieren, nieder mit den Vieren!“. Sie hatten es offenbar flott hierher geschafft. Oder es war ein anderer Zug. Aus diversen Haus- und Wohnungstoren strömten vereinzelte Menschengruppen, die sich dem Mob anschlossen: Statt dem Sprung aus dem Fenster der Weg auf die Straße. Ich wusste in dem Moment nicht, was mir lieber war. Die Gruppe, die da unten schreiend und gröhlend vorbeizog, war äußerst divers: Die einen trugen rote Fahnen mit Sternen, die anderen mit verschnörkelten Schriftzügen und Hakenkreuzen verzierte Plakate mit Aufschriften wie „Wir sind das Volk!“ oder „Politiker-Parasiten sind die Viren!“ Extremisten jeder Ausrichtung marschierten fröhlich entschlossen gemeinsam, und die vermeintliche, geschundene Volksseele zu rächen, die offenbar zu schwach gewesen war, um die Herausforderung zu meistern.

XII

Für mich, nun wieder die Frage: Was sollte ich darauf antworten, was soll man dazu sagen? Ich konnte ihr Verhalten nun natürlich besser nachvollziehen, aber helfen konnte ich ihr ja doch nicht. Es würde ihre Bereitschaft erfordern, sich zu öffnen und zu vertrauen, was sie in gewissem Ausmaß durch ihre Offenheit tat – doch dann waren da diese permanenten Kommunikationslöcher, wo ich wochenlang nichts von ihr hörte. Und auch diesmal, trotz gegenteiliger Beteuerung, sich sicher zu melden: Nichts. Es war 1.5 Wochen später, ich hatte kurz auf ihre Mail geantwortet, sie hatte sich knapp bedankt – seitdem: Funkstille.

***

Eines Abends saß ich am Küchenfesnter und starrte ins Leere. Die Virenlage hatte sich etwas entspannt, man durfte das Haus auch tagsüber für längere Zeiträume verlassen, die Lokale hatten von 12:00 bis 18:00 offen, diverse Geschäfte hatten wieder aufgesperrt. Noch lange keine Normalität, aber eine Wiederaufnahme des sozialen Betriebs.

Ich saß also da am Fenster und sinnierte vor mich hin, dachte nach über mich, die Zukunft, aber auch Madame, sie ließ mich nicht los. Meine nackte Nachbarin nebenan hatte ich seit Wochen nicht erblickt, entweder hatte ich Pech gehabt, oder auch sie war inzwischen vom Fenstersims gesegelt. Plötzlich tauche sie im Badezimmer auf, entkleidet und quicklebendig. Ich rückte meinen Stuhl näher an mein Fenster und versuchte, so gut wie möglich zu sehen. Urplötzlich öffneten sich die Scheiben und sie streckte ihren Kopf heraus, schien mich zu entdecken. Doch sie wich nicht zurück, reagierte auch nicht ungehalten oder erregt, sondern schien mir zuzuwinken. Zum Weglaufen war es zu spät. Ich winkte vorsichtig zurück; sie machte eine Bewegung die bedeuten konnte: Komm doch herüber. Sie wäre nicht die erste, die in den letzten Wochen alle sozialen Konventionen des guten Anstands über Bord geworfen hätte. Als ich mich dennoch nicht rührte, ging sie kurz raus aus dem Bad und kam nach einer Minute mit einem großen Papierborgen zurück. Sie kritzelte irgendwas drauf, hielt es dann ins Fenster: „Komm“.

Ich winkte noch einmal nach drüben, zog meine Schuhe an und überlegte den Weg, den ich gehen müsste, um bei ihr zu landen. Ich umrundete den Häuserblock schnellen Schrittes und stand dann vor dem Wohnhaus, das meiner Berechnung nach ihres sein müsste. Natürlich war ich nun darauf angewiesen, dass auch sie ihre Position geändert hätte. Da öffnete sich ein Fenster im Nachbarsgebäude (ich hatte mich offenbar leicht verschätzt), Lady lugte heraus und flötete in beschwingter Stimme „Halloooho“. Sie hatte sich inzwischen etwas angezogen und rief herunter: „Bin im 4. Stock!“, und verschwand wieder im Fensterbogen. Dann surrte der Türöffner des Wohnhauses, die wohl endgültige Einladung. Ich traute dem Ganzen nicht so recht über den Weg, entschied mich aber natürlich dazu, einzutreten. Ich nahm die Stufen nach oben, bis ich eine Tür erreichte, die offen war und nur angelehnt. Nachdem alle anderen Türen im 4. Stock geschlossen waren, musste das wohl diejenige welche sein. Ich trat vorsichtig ein, da kam sie auf mich zu. Mein Zurückweichen (Virus!) beantwortete sie mit „War die letzten Wochen infiziert, im Krankenhaus. Darum konntest du mich nicht im Badezimmerfenster sehen. Bin aber wieder gesund, keine Sorge.“ Sie umarmte mich überschwänglich und küsste mich auf die Wange. Mir war das alles immer noch mehr als suspekt, doch ich hatte mich ohnehin schon entschieden.

Als nächstes zog ich meine Schuhe aus und Lady bat mich in ihr Wohnzimmer und führte mich dann weiter in ihr großes Schlafzimmer. Das Fenster stand offen, am unteren Bettende standen 2 gemütlich aussehende Stühle. Lady setzte sich in den einen und bedeutete mir, im anderen Platz zu nehmen, was ich wortlos tat. Sie blickt mir strahlend ins Gesicht und lächelte warmherzig.

„Wie geht es dir?“

„Soweit, sogut, und selbst?“

„Wunderbar! Ich bin froh, am Leben zu sein. Ich will mein Leben nunmehr genießen. Kennst du den Italiener am Stadtrand im Bezirk XX ? Dort wollte ich schon lange wieder hingehen, hat wieder offen. Kennst du den Besitzer? Alter Typ, vergesslich, aber witzig. Essen ist ausgezeichnet. Magst du Essen? Ich liebe Essen.“

Ich war irritiert von ihrem Redeschwall, ihren Worten, die von Kontext zu Kontext sprangen und dennoch irgendwie einen seltsamen Sinn zu ergeben schienen.

// „Aufzeichnungen aus dem Loch“ ist eine fiktive Kurzgeschichte, die kapitelweise erscheint. Die Kapitel 1-11 lassen sich HIER nachlesen. Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. //

XI

// „Aufzeichnungen aus dem Loch“ ist eine fiktive Kurzgeschichte, die kapitelweise erscheint. Die Kapitel 1-10 lassen sich HIER nachlesen. Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. //

Der Trott ging jedoch weiter: Die Hälfte der oben erwähnten Maßnahmen wurde von der Regierung nach kurzer Zeit wieder zurückgenommen, da sich das Virus wieder verstärkt ausbreitete: Die Verkehrsberuhigungsverordnung hatte offenbar zu einer Verkehrsvervielfachung und dann zu einer Virenverkehrsbeschleunigung geführt. In einer pathetischen Pressekonferenz hatte unsere Regierung zum Durchhalten aufgerufen: Der Kanzler, bereits seit über 2 Jahrzehnten an der Macht und mit allen politischen Wassern gewaschen, wirkte blass, glanzlos. Er sprach von der „Verantwortung eines jeden einzelnen“, von „schmerzlichem Verzicht“ und von einer „Strohhalmwiese an Hoffnungen“, an dir wir glauben sollten. Dann starrte er ausdruckslos in die Kamera: Ihm wurde offenbar gerade bewusst, dass seine politische Karriere eben zu Ende ging. Der Vizekanzler, stets locker und gut gelaunt, hatte wie immer ein Glas mit klarer Flüssigkeit neben sich stehen, das nur die Gutgläubigsten für Wasser hielten, und versprach „rasche Hilfe“ und bat um etwas Zurückhaltung und „Abstandhalten, besonders beim Sex. Glauben Sie mir, mir fällt das auch nicht leicht, aber meiner Partnerin und ich haben ganz neue Seiten voneinander kennen gelernt!“

***

Von Madame hatte ich weiter nichts gehört. Ich begann, mit der ganzen Geschichte abzuschließen, sie als interessante, aber in letzter Konsequenz belanglose Eposide zu sehen, die mir die Virenzeit für eine Weile erträglicher gemacht hatte. Meinen Alkoholkonsum hatte ich inzwischen etwas eingeschränkt, ich versuchte, zumindest einmal pro Woche Sport zu treiben. Abgesehen davon schaute ich noch mehr Filme als zuvor, inzwischen auch viele Serien. Ich hatte auch begonnen, eine Art Virentagebuch zu führen, in dem ich mir täglich Gedanken über die aktuelle Lage machte.

Schließlich, es musste gut 1 Monat nach unserem Treffen und letzten Kontakt gewesen sein, fand sich eine E-Mail von Madame in meinem Posteingang. Ich hatte einen äußerst nüchternen Tag, es war Nachmittag und ich hatte erst eine halbe Flasche Wein getrunken. Die Mail war außerordentlich lang, vollgestopft mit weinenden Emojis (deren Wiedergabe ich mir der Einfachheit halber spare) und Rufzeichen und Fragezeichen. Ich setzte mich auf mein Bett und begann zu lesen:

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„Lieber Freund, lieber Liebhaber, vorweg: entschuldige meine furchtbare Ausdrucksweise. „Zu blöd zum Schreiben“ wie meinte Mutter immer gesagt hatte…ich hoffe, die wirst meine Anliegen dennoch verstehen können. Ich schulde dir eine Entschuldigung, eine Erklärung – wieder mal: Nach unserem nächtlichen Treffen ging es mir gut, aber die Tage danach miserabel. Schuldgefühle überkamen mich, Selbsthass, ich fühlte mich wie nach einem Erdbeben, das meinen Körper erschüttert hatte…ich weiß, es war richtig, es war gut (sorry für das viele Blut!), aber in mir herrschte Wut. Auf mich, auf dich, auf die Welt….und auf meine Familie, die mir stets jegliche Lust und Freude am Leben auszutreiben versuchte. Es liegt nicht an dir, es liegt an mir….ich habe dich gerne, wirklich, doch kann ich nicht anders, nicht besser.

Mein Ex liegt weiter im Koma, die Ärzte sagen, er wird nicht wieder erwachen. Seine Eltern wollen die Maschinen laufen lassen, sie können den Tatsachen nicht ins Auge sehen. Ich kann das, es ist gut. Ich mag schwach wirken, zerbrechlich, aber damit kann ich umgehen. …Ich habe Angst, ich versuche, zu leben, das Richtige zu tun, doch die Dämonen in mir, sie wollen mich für sich, sie lassen mich nicht los, niemals.

Ich will schreien, weinen, Dinge kaputt machen, allen alles erzählen, DIR alles erzählen, nicht mehr alleine sein, aber ich habe Angst, Angst vor mir, Angst vor meinem Innersten. Mein Gott, hilf mir! Ich wollte doch nur lieben!

Ich werde vertrauen, dass es der richtige Weg ist, an mich glauben, denn sonst gibt es niemanden. Ich muss mir vertrauen, es muss sein. Bitte, verlass mich nicht, ich liebe dich, ja wirklich! Ich mag verrückt sein, verrückt reden, dumm wirken, aber ich erkenne wahre Gefühle, ja, das tue ich, verlass mich nicht; ich will dich wieder sehen; es tut mir leid, nicht jetzt, bald, ich versuche, mich zu bessern, ich versuche, da zu sein, wirklich, es fällt mir schwer, gerade jetzt, aber ich versuche es, mein Bestes, denn du bist es wert. Ich melde mich in 5 Tagen, versprochen. Ob du antwortest oder nicht, bitte. xxx“

X

Ich hatte in den vergangenen Tagen einige alte Freunde kontaktiert, per Mail oder per Telefon / SMS. Einige meldeten sich zurück, von anderen hörte man nichts. Die Facebook-Seite eines alten Schulfreudnes, den ich auf diesem Wege kontaktieren wollte, zeigte „in memoriam“ an – er war also verstorben. Ob am Virus oder durch Suizid an dessen Nebenwirkungen war nicht bekannt. Ein Freund, den ich am Telefon erreichte, schrie 10 Minuten in den Hörer, faselte etwas von einer „großen Weltverschwörung“, um die Menschheit per Maskenpflicht zu unterjochen. Ich bedankte mich für das Gespräch und legte auf. Eine weitere Freundin, eher vernünftig, schrieb mir, dass es ihr soweit gut ginge, sie aber auch nur von Tag zu Tag denken konnte, und mit Mühe täglich versuchte, das Fensterbrett nicht als Sprungbrett zu nutzen.

Es war gut, andere Stimmen zu hören, doch spätestens nach einigen Stunden kehrte dieses Gefühl der beklemmenden, all umfassenden Isolation wieder zurück, dass sich inzwischen zu einer ernsthaften psychischen Krankheit gesteigert hatte. Ich hatte bereits morgens Selbstmordgedanken, wollte schon um 9 zu trinken beginnen (ich versuchte, immer erst ab 1 damit anzufangen) und rauchte inzwischen eine Packung Zigaretten am Tag. Ab und an ritzte ich meine Haut, um zu spüren, ob ich noch lebte.

Die einzige gute Nachricht: Offenbar war es gelungen, durch die konsequenten Maßnahmen die Ausbreitung des Virus zu stoppen, wodurch es immer weniger Infizierte gab, und die Politik darüber nachdachte, gewisse Lockerungen zu erlauben: Spazierengehen untertags zu bestimmten Zeiten (15:00 – 17:00), die Öffnung diverser Lokale für eine Stunde pro Tag, und so weiter. Besonders lustig fand ich die fieberhafte Überlegung, ob und wie man „Sexarbeit“ wieder ermöglichen könnte: Angedacht war eine Regelung, die man von Peep-Shows kennt: Prostitierten sollte es erlaubt sein, sich hinter einer Glasscheibe zu räkeln, während der „Freier“ dem Treiben durch die Scheibe zuschauen und beiwohnen durfte. Für das Putzen der Scheiben musste eigenes Desinfektionsmittel angewendet werden. Auch überlegte die Politik, ob und wie man der Bevölkerung wieder erlauben sollte, sich mit Fremden zu treffen. Denn Studien ergaben, dass über 90% aller Suizide von Singles begangen wurde, wenn sich Abschiedsbriefe fanden stand oft etwas drinnen von „ich halte dieses Alleinsein nicht mehr aus!!“ oder „4 Monate ohne Sex sind genug!“ und so weiter. Man wollte also im Sinne der Allgemeinheit „Datingregeln“ erlassen, da nicht jeder das fragwürdige Glück hatte, auf immunisierte Irre zu treffen. Treffen im Freien sollte erlaubt werden, allerdings nur zwischen 18 und 20 Uhr. Spazierengehen war erlaubt, Umarmen auch, allerdings nur mit Maske, gemeinsame Besuche in den geöffneten Lokalen ebenso. Dann wurde es kompliziert: „Es ist davon auszugehen, dass eine gewisse Prozentzahl dieser staatlich legitimierten Sozialtreffen zu dem gemeinschaftlichen Wunsch führen, Geschlechtsverkehr auszuüben. Zu diesem Zwecke ist auf Folgendes zu achten: 1. GV nur mit Mund- und Penisschutz. 2. Küssen ist untersagt. 3. Stellungen, die eine besondere Nähe des Gesichtspartien der beiden Korpulierenden erfordern, sollen vermieden werden, wenn möglich. Die Regierung empfiehlt Verkehr in einer Position, die weithin als „Doggy-Style“ bekannt ist, oder Analsex, wobei der Frau empfohlen wird, sich besonders weit nach vorne zu beugen, um das Ansteckungsrisiko zu minimieren. Homosexuelle Paare mögen diese Vorgaben entsprechend für ihre Bedürfnise adaptieren.“ – Dieser geplante Gesetzestext aus Regierunsgkreisen wurde geleaked und ging als „Vekehrsberuhigungsverordnung“ in die Medien ein.

„Aufzeichnungen aus dem Loch“ ist eine fiktive Kurzgeschichte, die kapitelweise erscheint. Die Kapitel 1-9 lassen sich HIER nachlesen.

IX

Wahnsinn ist die Unfähigkeit, seinen Gefühlen und Bedürfnissen mit legitimen Mitteln Ausdruck zu verleihen. Insofern ist die Definition von „Wahn-Sinn“ auch kultur- und epochenabhängig, so kann temporärer Wahn auch bloß eine Reaktion auf ein krankes Umfeld sein. Dennoch, und davon bin ich fest überzeugt, ist es die Aufgabe eines jeden, Schaden von anderen abzuwenden; der Schaden kann sich dann natürlich auch gegen einen selbst richten, und die Frage ist, ob dies nun „moralischer“ oder „richtiger“ ist.

Solche und ähnliche Gedanken spann ich, nachdem sich Madame trotz gegenteiligen Versprechen nicht gemeldet hatte. Meine kurzzeitig erhellte Stimmung verdunkelte sich zunehmend. Ich litt nicht an der faktischen Situation, die uns alle aufgrund des Virus gleich betraf, sondern an der kollektiven Isolation, in der sich die Menschheit verfangen hatte. Niemand verließ das Haus, jegliches soziales Leben war erstorben, und das bereits seit 5 Monaten. Ich verwarf die zarte Hoffnung, die mir die Begegnung mit Madame ermöglicht hatte, und fragte mich, wie ich mein Dasein die kommenden Monate fristen sollte. Von der Politik hieß es, es werde sich für zumindest 6 weitere Monate nichts an der aktuellen Lage ändern können; irgendwann, ja, irgendwann würde ein normales Leben wieder möglich sein, doch jetzt nicht.

Inzwischen konusmierte ich fast täglich eine Flasche Vodka oder andere hochprozentige Alkoholika, ohne entsprechende Wirkung. Online hatte ich mir Schmerzmittel bestellt, die ich morgens und Abends zu mir nahm, und die mich schlafen ließen. Mir erschien all das angesichts der Umstände völlig logisch und folgerichtig.

Mein üblicher Tagesablauf sah wie folgt aus: Ca. 8 Uhr: Aufstehen. Duschen, frühstücken. Dann den ersten Film einlegen, und hoffen, bis Mittag ohne Alkohol durchzuhalten. Mittag: 2 Bier oder eine Flasche Wein, je nachdem, dann der nächste Film. Danach der nächste. Um ca. 4 Uhr kochen, „Mittagessen“ wie ich es nannhte, dann 4 Folgen irgendeiner dämlichen Serie. Dann gegen 7 oder 8 ein Blick ins Internet. Danach eine halbe Flasche Hochprozentiges; 1 Folge einer Serie, danach wieder 1 Film. Gegen 11 die zweite Hälfte der Flasche, dann Musik oder eine weitere Serienfolge, manchmal ein Spaziergang in der Nacht, sofern das mein Zustand noch zuließ. Masturbation, einen letzten Film einlegen, zu dem ich gegen 2 oder 3 morgens einschlief.

Kapitel VIII

Ich beugte mich über sie und zog den Glassplitter aus ihrem Bein, die Wunde war nicht tief und die Blutung stoppte bald; danach holte ich ein Tuch und wickelte es um die Wunde; sie schien sich langsam zu beruhigen, ihr Gesicht entspannte sich, sie rutsche nach oben ans Bettende und lief ihren Kopf in das Kissen sinken. Ich deckte ihren immer noch nackten Körper zu und ging ins Badezimmer, um mir das Blut abzuwaschen. Als ich zurückkahm, hörte ich, dass sich ihre Atmung verlangsamt hatte und nun sanft und regelmäßig ging. Ich setzte mich neben sie auf die Bettkante. Sie blickte mich an, völlig entspannt, wirkte dabei auf seltsame Art glücklich und frei und sagte „Danke.“ Dann schloss sie ihre Augen und schlief ein.

***

Nach diesem zugegeben etwas seltsamen „Date“ hörte ich erneut 2 Wochen nichts von Madame. Sie hatte die folgende Nacht wie ein Baby geschlafen, während ich die halbe Nacht wach neben ihr lag, die Decke anstarrte und mich fragte, was das alles zu bedeuten hatte. Am folgenden Morgen sprang sie fröhlich aus dem Bett, als wäre nichts gewesen, betrachtete ihre Wunde am Bein, die sich in der Nacht geschlossen hatte, zog sich an und fragte, ob sie denn Kaffee kochen solle. Danach kehrte sie die Scherben zusammen, die immer noch in der halben Wohnung verstreut lagen. Sie blieb noch knapp 2 Stunden, in denen wir das erste Mal seit gestern tatsächlich normal miteinander redeten, obwohl es eher belanglose Themen waren. Über ihre Mail-Beichte sprachen wir nicht, ebensowenig über die Ereignisse vom Vorabend; schließlich bedankte sie sich noch einmal für den „tollen Abend“, wie sie sagte, und verließ die Wohnung.

Nun, eben 2 Wochen später: Kein Wort von ihr. Ich begann, mich damit abzufinden, dass solche Kommunikationslöcher wohl regelmäßig entstehen würden, egal, in welcher Art der Beziehung wir zueinander stehen würden. Ich versuchte, mich damit abzufinden, denn trotz aller Irritationen fand ich die Begegnugen mit ihr stets  anregend, aufregend und belebend, und am Ende sogar irgendwie seltsam schön.

Ich selbst versank derweil wieder in eine tiefe Depression. Das Wetter hatte sich gewandelt, es regnete tagelang, auf der Straße waren keine Menschen zu sehen, nicht einmal nachts. Auch ich verließ nur noch höchstens einmal pro Woche die Wohnung, zum Einkaufen, wo ich mich mit Pizza, Burgern und flaschenweise Alkohol eindeckte.

Jeden Abend gegen rund 7 Uhr versank ich in einen seltsamen Zustand, der mir selbst zunehmend besorgniserregend vorkam: Nach einem oder 2 Gläsern starken Alkohols lief ich meine Wohnung auf und ab und spann exzentrische Gedanken, die sich nahe dem Wahn befanden; einmal überlegte ich, meinen Fernseher aus dem Fenster zu werfen, grundlos, einfach so: Das Fenster zur Welt durch Fensterwurf töten, da die darin gespielte Welt ohnehin nicht mehr existierte. Ein anderes Mal überlegte ich, nackt durch die Straßen zu laufen; das hätte mich aber bei unglücklichem Verlauf ebenso auf eine der „Spezialstationen“ für Irre in ein Krankenhaus gebracht. Sogar das überlegte ich ernsthaft, ob das nicht ein sinnvollerer Aufenthaltsort wäre als meine Wohnung, da es dort wohl immerhin „Gesellschaft“ geben würde.

Eines Abends, es mussten 2.5 Wochen seit dem letzten Kontakt zu Madame vergangen sein, rief ich sie an. Niemand hob ab, doch das Handy läutete. 10 Minuten später rief sie mich zurück: „Hallo! Wie geht’s dir denn? Alles gut?“ sagte sie in seltsam beschwingten Tonfall. Ich sagte ihr, dass es eh so ging, und fragte sie nach ihrem Befinden, und warum sie sich nicht gemeldet hatte. „Achso! Ja, sorry, das tut mir leid…also mir geht es sehr gut. Ich besuche jetzt täglich meinen Schatz im KH, er liegt im Koma, aber die Ärzte meinen, vielleicht nimmt er mich wahr, und wacht dann bald auf. Verstehst du? Ja, sicher tust du das…sag, willst du nicht einmal mitkommen?“ Ich war wütend und wollte einfach auflegen. Ich sagte beinahe 30 Sekunden nichts und überlegte fieberhaft, wie ich reagieren sollte. Ich fand ihr Verhalten unpassend, gleichzeitig konnte ich ihr nicht böse sein. Ich resignierte innerlich und sagte ihr, dass ich wenig Lust hatte, ihren komatösen Freund zu besuchen. „Schade“, meinte sie nur und fragte dann, ob wir uns bald wieder treffen könnten. Sie war eben verrückt. „Nein“, antwortete ich knapp. Es tat mir innerlich weh, das gesagt zu haben. Stille. Ich hörte ihr Atmen, doch sie sagte nichts. Sie schien zu überlegen. Schließlich, nach beinahe 2 Minuten: „Du hast Recht. Es tut mir leid. Das ist nicht in Ordnung von mir. Ich würde dich gerne wiedersehen. Du weißt, wie die Situation hier ist, aber ich darf dich nicht belasten. Ich werde nicht mehr über ihn reden, egal, was zwischen uns sein wird.“ Ich war einverstanden, zum ersten Mal war auch von ihrer Seite ein Eingeständnis zu unserer Beziehung, auch eine Art Erkenntnis spürbar; sie schloss mit dem Versprechen, sich am nächsten Tag erneut zu melden.

VII

2 Wochen später

In den vergangenen Wochen war wenig Neues geschehen. Von Madame hatte ich nichts gehört. Ich hoffte, dass es ihr gut ging, hatte aber auch nicht versucht, sie zu kontaktieren. Stattdessen war ich wieder dazu übergegangen, meine Nachbarin, diese mit dem Badezimmerfenster direkt gegenüber, zu beobachten: 2 Mal hatte ich sie erwischt, wie sie Abends nackt aus ihrer Dusche trat und sich einige Minuten in ihrem Spiegel betrachtete. Sie hatte mich bisher nicht bemerkt, mir war es inzwischen vollkommen egal, wenn sie es tun würde, ich hoffte sogar insgeheim darauf, es würde meine Langeweile vertreiben, die mich in den letzten Wocher wieder umschlungen hatte. Obwohl mir die Geschichte mit Madame immer noch Kopf- und Bauchschmerzen bereitete, vermisste ich sie irgendwie, obwohl wir uns ja kaum kannten.

In den letzten Tagen schien die Stimmung der Menschen allgemein besser geworden zu sein: Es gab keine weiteren Fenstersprünge in der Nachbarschaft, auch die Wirren, die schreiend durch die Straßen irrten und ihrem Wahn Luft machten, wurden immer seltener. Das Wetter draußen wurde angenehmer, ab und an sah man Menschen auf ihren Terassane sitzen, lesend, schlafend. Unsere Häuser durften wir weiterhin nicht verlassen, außer zum Einkaufen, jeder, der aufgehalten wurde, und keinen guten Grund für seinen Aktivität angeben konnte, musste 50€ bar zahlen. In der Nacht wurde aber weiterhin nicht kontrolliert. Ich hatte wieder einige Nachtspaziergänge unternummen, meinen üblichen Weg zur Bahnbrücke aber gemieden. Vor 3 Tagen war ich dann doch dort gewesen, hatte aber niemanden angetroffen.

Als ich eines Tages wieder nichtstuend im Bett lag und aus dem Fenster starrte, läutete mein Handy. „Lass uns treffen“ stand da. Mehr nicht. Die Nachricht kam von Madame. Es war Nachmittag, es war mir zu riskant (bzw. zu teuer), jetzt raus zu gehen. Wenn sie zu mir kommen würde, gerne, ansonsten würde ich mit einem Treffen bis Abend/Nacht warten. Dass ich sie treffen wollte, stand für mich fest: Mir war so langweilig geworden, dass ich für jede Abwechslung dankbar war. Ich schrieb ihr, dass wir uns gern treffen könnten, aber erst später, und fragte nach ihrem Befinden. „Mein Freund lebt noch, also offiziell, aber die Ärzte sagen, die Chance, dass er wiedererwacht, liegt bei 5%. Versuche, damit abzuschließen. Bin einsam, habe Drogen genommen letzte Tage, heute nüchtern, geht besser. Schlafe viel, mache wenig. Bitte treffen, heute um 9? Bei dir?“ Ich war einverstanden, und ließ ihr meine Adresse zukommen.

Es war bereits halb 10, und weit und breit keine Spur von meinem nächtlichen Besuch. Ich überlegte, ihr eine Nachricht zu schreiben – vielleicht fand sie auch einfach den Weg nicht – aber unterließ es dann. Stattdessen goss ich mir ein Glas Vodka ein, das ich schnell leerte, als ich durch das Fenster in der Dunkelheit Bewegung sich abzeichnen sah. Kurz darauf läutete es. Eigentlich waren uns auch solche Besuche nicht erlaubt, aber nachdem ich ja bereits bei ihr gewesen war, und sie offenbar immun gegen das Virus war, sollte das kein Problem sein. Schließlich war Madam da, sie klopfte an meiner Wohnungstür, ich öffnete und bat sie herein. Sie hatte deutlich abgenommen, hatte blutunterlaufene Augen, in ihren Armbeugen zeichneten sich Nadeleinstiche ab. Ich fragte nicht und führte sie in mein Wohnzimmer. Sie setzte sich wortlos auf die Couch und blickte ins Leere. Ich bat ihr ein Glas Wasser an, dann ein Glas Vodka, das sie annahm und ebenfalls in einem Zug leerte. Sie hatte immer noch kein Wort gesprochen seit ihrer Ankunft. Ich fragte sie vorsichtig: „Na, wie geht’s dir?“

„Sieh mich an.“

„Ich sehe dich…es tut mir leid.“

„Brauchst du nicht, ich will kein Mitleid.“

„Das ist nicht Mitleid, sondern Mitgefühl. Wenn du das auch nichts willst, können wir auch so tun, also wäre nichts geschehen, und gleich ins Bett spingen.“ Ich wusste nicht, warum ich das gesagt hatte, fand es auch ziemlich unpassend, es sollte auch eher ein Scherz sein, denn ein ernsthafter Vorschlag. „OK“ sagte sie nur, und begann, sich zu entkleiden. Die Fenster im Wohnzimmer waren offen, sollte gerade wieder jemand überlegen, seinem Leben durch Turmsprung ohne Becken ein Ende zu setzen, der Anblick könnte vorübergehend seine Rettung sein. Mir war das dann doch zu unangenehm, ich zog die Vorhänge zu. Madame schien das nicht zu kümmern, sie war bereits bis auf ihre Unterwäsche entkleidet. Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte: Ich hätte ihr sagen können, dass das alles nur ein Scherz gewesen war, dass ich nicht die Absicht hatte, mit ihr zu schlafen; sie könnte es aber auch als Zurückweisung auffassen, vielleicht war es im Moment wirklich genau das, was sie brauchte? Ich könnte auch den den Gentleman geben, der sie nobel zurückweist, breit und schwülstig erklären, warum ich niemals die offenbar missliche Lage einer Dame ausnutzen würde. Ich war von der Situation überfordert, überrumpelt, irritiert. Ich fragte mich, ob ich nicht zumindest kurz mit ihr sprechen sollte. Sie fragen sollte, was sie vorhatte, warum sie das tat. Sie entledigte sich gerade ihres BHs, dann ihres Höschens, das sie lustos auf den Boden warf. Dann kam sie zu mir herüber, begann damit, mir meine Hose auszuziehen; ich ließ alles über mich ergehen, war irgendwie teilnehmender Beobachter dieses seltsamen Akts, der gleichzeitig geschäftsmäßig und distanziert, aber auch auch seltsame Art liebevoll sich vollzog.

Als wir fertig waren, drehte sie sich um und blickte mir in die Augen; dann wirkte es so, als würde jegliches Leben aus ihrem Blick entweichen. Sie starrte ins Leere, ich wusste nicht, was geschehen war, sie wirkte abwesend. Ich fragte sie, ob sie in Ordnung wäre, sie nickte kurz, sonst keine Reaktion. Wir lagen 5 Minuten so nebeneinander, ich gebannt wartend, sie völlig wegegtreten. Dann sprang sie plötzlich auf, ging in die Küche und kam mit einem Glas Vodka in der Hand zurück. Sie trank die Hälfte, dann warf sie das Glas gegen die Wand, wo es kunstvoll zersprang, nahm eine der Scherben, rammte sie sich daraufhin in ihren linken Oberschenkel, wo er stecken blieb, und ließ sich wieder aufs Bett fallen, das sich nun langsam rot färbte.


„Aufzeichnungen aus dem Loch“ ist eine Kurzgeschichte, die kapitelweise während dem Entstehungsprozess hier veröffentlicht wird. Alle Personen und Geschehnisse sind frei erfunden und fiktiv.