Geschichte verläuft in Wellenbewegungen: Auf den „Aufschwung“ folgt meist der „Abschwung“. Ob es insgesamt doch „nach oben“ geht, ist der Interpretation jeder/s einzelnen überlassen. Der letzte Aufschwung dauerte nun mehrere Jahrzehnte an, und damit außergewöhnlich lange. Und er war außergewöhnlich hoch. Nach dem 1. Weltkrieg und dem Zivilisationsbruch in vielen Ländern im 2. Weltkrieg folgte in der 2. Hälfte des 20. Jh. ein nie zuvor dagewesener Aufschwung, eine Zeit großer technischer, sozialer, gesellschaftlicher Entwicklungen, geprägt von Optimismus, Stabilität und Demokratie. Während diese Entwicklung in erster Linie im „Westen“, also Europa und den USA, stattfand, strahlte sie und ihre Errungenschaften auch auf den Rest der Welt aus: Kulturimperialismus muss nicht immer aktiv und explizit sein, die Atttrativität einer liberalen und demokratischen Gesellschaft ist unbestreitbar, die „Vorbild“wirkung muss nichts Schlechtes sein. Und der Zusammenbruch undemokratischer Systeme wie der Sowjetunion waren nur möglich, weil es auf der anderen Seite das „Andere“, „Bessere“ gab, das als Alternative der Hoffnung leuchtete.
In den 1990ern sprach Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“, da sich unser liberales Lebensmodell nun endgültig und für immer durchgesetzt hätte. Dachte er.
Während die 1990er als vielleicht größtes, bestes Jahrzehnt für viele Menschen in die Geschichte eingegangen sind, bekam das Ideal der sorglosen Zukunft mit 9/11 erste Risse: Die USA – und damit der „Westen“ – bekamen vor Augen geführt, dass man nicht absolut unantastbar ist. Der Terror, ein reaktionärer Angriff „von außen“ auf unser Lebensmodell, blieb als Angst und Warnung präsent, konnte aber letztendlich real wenig ausrichten, die faktische Wirkung von islamistischen Organisationen wie Al Kaida oder ISIS IN Europa und den USA blieb überschaubar. Der Angriff musste also „von innen“ kommen.
Das Plateau der Jahrzehnte der relativen kollektiven Sorglosigkeit wurde 2015 erreicht. Danach ging es nur noch bergab, um es flapsig auszudrücken. Die exakte Ursache ist schwer zu benennen, da es kein eindeutig nachvollziehbares Ereignis gab, das die Wellenbewegung nach unten kippen ließ. Man kann von einem „natürlichen Vorgang“ sprechen, wenn man an eine gesellschaftliche und historische Logik glaubt, nach der Entwicklungen immer in Wellenbewegungen stattfinden, auf die „These“ die „Antithese“ folgt. Trotzdem muss es Auslöser für die Kippbewegung geben.
Was um 2015 feststellbar wurde, war ein zunehmendes Gefühl vieler Menschen, dass es nicht mehr „voranging“, dass sie nicht mehr positiv in die Zukunft blicken ließ, sondern besorgt oder hoffnungslos. Hatte sich „das System“ überlebt, war an seine Grenzen gestoßen? Gedachte „Fortschritte“ wie „soziale“ Medien, die Teilhabe am öffentlichen Diskurs demokratisieren sollten, zeigten ihre Schattenseiten, der digitale Wilde Westen ohne Regulation gab bisher Stummen eine Stimme, aber auch solchen, die besser stumm geblieben wären: Missgunst, Hass und Desinformation zogen ein in die öffentlichen Diskurse ein und bekamen aufgrund der Funktionsweise dieser Medien Bedeutung und Macht, die sie in demokratischen Gesellschaften nicht haben sollten. Zudem ist wohl auch die ganz alltägliche Wirkung dieser Medien (digitaler, virtueller Kontakt statt direkt-menschlicher inkl. all der Vorteile und Korrektive „normaler“ Kommunikation) nicht wegzudenken.
Eine Mischung aus subtiler Unzufriedenheit, negativen sozialer Effekten technischer Fortschritte und dem tatsächlichen Erreichen eines (auch ökonomischen) Plateaus führte bei einem gewissen Teil der Bevölkerung zu (nachvollziehbarer) Sorge und Wut, Parteien und Politiker wie die FPÖ, AfD, Front National, Donald Trump und Co. instrumentalisierten diese Gemengelage populistisch und demagogisch für ihre Zwecke. Das Resultat waren Brexit und Trump-Präsidentschaft und das Gefühl einer „Bedrohung von Rechts“ auf das existierende System, die sich als „bessere Alternative“ und „Lösung“ ausgab. Während dabei mitunter auch tatsächliche Probleme benannt und existierende Gefühle angesprochen wurden, geschah dies aus falschen Motiven und ohne reale Lösungsabsicht.
In diese Zeit fiel auch die „Flüchtlingskrise“, die rückblickend eine Kombination zwischen staatlicher Belastung, demagogischer Stimmungsmache und Instrumentalisierung und „Sündenbock“-Suche darstellte: Während einige Staaten Europas mit dem Zulauf von Flüchtenden tatsächlich an ihre Grenzen der Belastbarkeit kamen, stand ein „Zusammenbruch“ des Systems nie im Raum und durch mit der Zeit auch EU-weit implementierten Regulationen konnte die Entwicklung bald unter Kontrolle gebracht werden. Natürlich bot diese emotional aufgeladenen „Bedrohung von außen“ aber auch eine dankbare Projektionsfläche für alle (teilweise auch berechtigt) Unzufriedenen, die ihre Unzufriedenheit mit den herrschenden Bedingungen, dem „System“, ihren Wut und Hass einfach auf „den Flüchtlingen“ abladen konnten – und so zumindest imaginativ ihrer gefühlte Ohnmacht Herr werden konnten: Wenn nur die Grenzen dicht sind, ist die Bedrohung abgewehrt; mir geht es schlecht, weil es dem Flüchtling hier (zu) gut geht – und so weiter. Gedankt wurde jenen politischen Parteien, die ebendas versprachen: Nämlich den „alten Zustand“ wiederherzustellen, und das am besten durch dichte Grenzen und Abschiebung der Flüchtlinge. Dass eine Belastung in manchen Staaten zwar vorhanden war, aber kein kausaler Zusammengang zwischen „Flüchtlingen“ im Land und persönlicher Unzufriedenheit bestand, ist die andere Seite.
Während sich nach 2015 in manchen Staaten Rechtspopulisten tatsächlich durchsetzen konnten und an die Macht kamen, wurde der Angriff dieser Parteien in anderen abgewehrt; mit Blick auf Österreich zerlegten sich einige Parteien wie die FPÖ selbst, die ihren Dilettantismus offenlegten und sich so selbst disqualifizierten. Während die Welt um 2019, Anfang 2020 also nicht zwingend eine hoffnungsvolle war, gab es eine Gleichzeitigkeit und einen Wettstreit demokratischer und undemokratischer Kräfte in vielen Ländern und Gesellschaften, Ausgang offen. Man konnte noch hoffen. Dann kam März 2020 und Corona.
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Die Pandemie stellt tatsächlich den größten Bruch, das größte eruptive globale Ereignis seit dem 2. Weltkrieg dar. Zu Beginn fehlten die Erfahrungswerte im Umgang damit, weder waren wir als Menschen, noch unsere Systeme mit einer solchen spezifischen Herausforderung, auch nicht einer Krise dieses Ausmaßes allgemein vertraut, da wir seit Generationen in erster Linie Sorglosigkeit kannten. In den meisten Ländern reagierten die Politik und Gesellschaft sehr vernünftig, man verließ sich auf Fakten und Wissenschaft im Kampf gegen die schwer fassbare Bedrohung. Zu Beginn waren nur jene gegen Schutzmaßnahmen (eine an sich völlig absurde Idee, sich dagegen zu wehren, geschützt zu werden / sich zu schützen), die bereits vorher Misstrauen gegen den Staat hegten, falsch informiert waren oder mit Einschränkungen in ihrem Alltag (psychisch/sozial) nicht zurande kamen. Wenig überraschend waren es oft rechte bis extrem rechte Parteien, die ähnliches forderten. Das Ideal in diesen Gruppierungen war Krise negieren statt konfrontieren und Lernen, ein auch aus dem Privaten wohlbekannter, psychischer Mechanismus.
Während zu Beginn der Pandemie die überwiegende Mehrheit der Menschen die Maßnahmen mittrug und guthieß und auch die meisten politischen Parteien sie unterstützten, begann diese Solidarität Ende 2020 langsam zu bröckeln. Wir wussten nicht, wie das weitergehen würde, nach der ersten Corona-Welle im Frühjahr dachten manche, es wäre „überstanden“ (die wenigsten waren mit den Charakteristiken von Pandemien vertraut, da sie nie eine erlebt hatten). Im Herbst/Winter 2020 folgte die nächste Welle und weitere Lockdowns, die natürlich psychisch an den Menschen zehrten. Die Aufhebung strikter Maßnahmen erfolgte in manchen Bereichen 2021 mitunter etwas zu spät, vor allem aber wurde es völlig verabsäumt, auch die psychischen Auswirkungen der Pandemie an sich, aber auch der Maßnahmen auf die Menschen zu beachten oder ihnen entgegenzuwirken. Bei vielen Menschen setzte spätestens nach der 2. Welle eine „Pandemie-Müdigkeit“ ein, die sie an die Grenzen ihrer psychischen Belastbarkeit brachte (oder darüber hinaus).
Als die Pandemie Ende 2021 immer noch nicht vorbei war, eine nächste Welle weitere Maßnahmen erforderlich machte (bis hin zu erneuten Lockdowns, etwa in Österreich), kippte die Stimmung vielerorts: In manchen Ländern wurde klar und offensichtlich, dass die politischen (und sozialen) Systeme an ihre Grenzen bei der Bekämpfung und Abwehr der Bedrohung geraten waren. Das Resultat waren erratische Entscheidungen und verwirrende Kommunikation (insb. mit Blick auf Österreich), die vieles ausstrahlten und bewirkten, aber sicher nicht Vertrauen oder Stabilität, im Gegenteil. Als Im späten Winter 2022 eine weitere Infektionswelle folgte, wurde, so scheint es, „aufgegeben“: 2 Jahre Dauerkrise war für viele Menschen, aber auch (politische) Systeme zu viel, anstatt sich anzupassen, umzudenken, abzuwägen, sich zu reformieren und die geänderten Umstände zu akzeptieren, wurde verdrängt, negiert, ausgeblendet. Natürlich lässt sich keine Krise, keine reale Bedrohung damit „beenden“ oder bekämpfen.
Knapp danach folgte die nächste Krise – Der von Putin vom Zaun gebrochene Krieg in der Ukraine. Neben dem Schock, nun erstmals seit 1945 wieder Krieg in direkter Nachbarschaft zu haben (abgesehen vom „Bürgerkrieg“ im ehemaligen Jugoslawien), der Sorge, die damit verbunden ist, der Angst, dass dieser Krieg auch uns erreichen könnte und die Wirkung von Bildern von Gräueltaten der Russen betraf uns das Ganze bald auch direkt: Explodierende Benzin- und Energiepreise, Versorgungsunsicherheit, Inflation, kommende Wirtschaftskrise. Menschen, die sich schon davor bezüglich der Corona-Pandemie ihrer Vernunft entledigt hatten, taten dies nun umso stärker. Die wahnsinnige Forderungen, einfach die Sanktionen gegen Russland aufzuheben, um den „alten Zustand“ wiederherzustellen, sind Beispiel dafür.
Verdrängung ist inzwischen für die Mehrheit der Menschen der einzige Weg geworden, zu überleben. Dass das nicht nachhaltig und mittel- und langfristig destruktiv und im wahrsten Sinn des Wortes tödlich ist, ist klar. In diese Gemengelage stoßen (erneut) Demagogen und Populisten, die Ängste, Wut, Überforderung vieler Menschen aufgreifen und kanalisieren. Hass greift um sich, Entwertung menschlichen Lebens hat wieder Einzug in unsere Politik und alltägliche Kommunikation gehalten. Falschinformationen, die die eigene Verdrängung und Lüge und deren Aufrechterhaltung (die zum Überleben nötig ist) fördern, verbreiten sich und werden zur „neuen Realität“. Offenkundige Missstände, sei es nun die Überlastung von Spitälern und des Gesundheitswesens, bleibende gesundheitliche Schäden oder Tote durch Corona, aber auch massive Probleme, die die Inflation und steigende Energiepreise den Menschen machen, werden ignoriert, abgetan, ausgeblendet, von weiten Teilen der Politik, aber auch vielen Menschen.
Hinter all dem droht natürlich auch die Klimakrise, deren Auswirkungen bereits sichtbar sind (Temperaturänderungen, bisher unbekannte Wetterphänomene wie massive und flächendeckende Unwetter, Überschwemmungen in regelmäßigen Abständen etc. – und deren Folgen), aber für viele Menschen angesichts der bereits beschriebenen und direkter spürbaren Krisen in den Hintergrund getreten sind, aber nichtsdestotrotz schnellste Antworten erfordern würden.
Wir sind am Endpunkt einer Entwicklung angelangt, die das Fortbestehen demokratischer Systeme nicht nur in Frage stellt und bedroht, sondern vielerorts bereits unmöglich macht. Eine „Reform“ von innen scheint derzeit in vielen Staaten nicht möglich, eine „von außen“ nicht gewünscht, da dies (kollektive) Reflexion, Anerkennung und Aufarbeitung der oben beschriebenen Missstände und Entwicklungen voraussetzen würde.
Klar ist, dass dies in den Abgrund führt: Undemokratische, demagogische und faschistische Prinzipien greifen bereits jetzt in pro forma noch demokratischen Systemen um sich und werden durch neue politische Führungsfiguren in den kommenden Jahren weiter verschärft werden. Die kollektive Lüge, das „Böse“ halten wieder Einzug in unserer Gesellschaft, in anderer Form wie um 1940, von vielen noch unerkannt, aber letztendlich mit ähnlichen Konsequenzen.
Als „Gesellschaft“ kann solch eine Entwicklung nur gestoppt werden, wenn die Mehrheit der Menschen das möchte; das ist aktuell nicht möglich oder absehbar. Man muss davon ausgehen, dass es „noch viel schlimmer werden muss“, bevor „etwas geschieht“ und es wieder „besser werden“ kann.
Was kann man nun also als Individuum tun? Sich abgrenzen. Der eigenen Wahrnehmung trauen. Auf sich und sein Umfeld achten. Sich schützen. Und bei Möglichkeit sich soweit wie möglich von toxischen Verstrickungen lösen, die in den sicheren Abgrund führen. Irgendwann wird diese aus mehreren Riesen-Krisen bestehende Mega-Krise vorbei sein und jene werden als Gewinner dastehen, die sich der Vorgänge bewusst waren und vernünftig, achtsam, klug und menschlich gehandelt haben. Dem Rest winkt der selbstverschuldete Untergang, in der einen Form oder der anderen, jetzt oder später.